Jugendliche wollen abgeholt werden - Standortförderung Zürioberland

Jugendliche wollen abgeholt werden

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Das Interview mit Andreas Wyss ist auch im Zürioberland Magazin vom 5. April 2024 erschienen.

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Der Sozialwissenschaftler Andreas Wyss im Gespräch mit Jacqueline Falk, Leiterin Geschäftsfeld Kultur und Gesellschaft Standortförderung Zürioberland: Wie steht es um die Befindlichkeiten und Herausforderungen der Jugend und was können Gemeinden und die Gesellschaft für sie tun können.

Gemäss den neuesten schweizweiten Studien leiden Jugendliche mehr als je zuvor, insbesondere junge Frauen. Wie nehmen Sie das wahr? Wie geht es der Jugend?
Andreas Wyss: Kaum ein Tag vergeht, an dem in den Medien nicht ein düsteres Bild der Jugend gezeichnet wird. Es gehe ihr schlecht und psychische Probleme würden massiv zunehmen. Dabei vergisst man zuweilen, dass die Mehrheit der Jugendlichen ihren Weg geht und krisenhafte Phasen auch Teil der Jugend, ja Teil des Lebens sind.

Zurücklehnen dürfen wir uns aber nicht, denn die Jugend ist auf gute Rahmenbedingungen und definitiv auch auf Hilfsangebote angewiesen. Mir persönlich bereitet jedoch insbesondere das allgemeine gesellschaftliche Umfeld Sorgen, in dem heute Jugend stattfindet. Hier sehe ich Entwicklungen, auf die es keine einfachen Antworten gibt.

In Umfragen leiden Mädchen wie Jungen vor allem unter Schulstress und der Angst, nicht zu genügen, aber auch unter Zukunftsängsten. Was genau belastet die Jugend?
Vor 50 Jahren konnte man mehrheitlich darauf vertrauen, dass es den eigenen Kindern einmal besser gehen würde als einem selbst. Wie dieses Besser aussah, blieb immer vage und wurde je nach Lebenslage und individuellem Lebensentwurf anders ausgelegt. Es war vor allem ein Versprechen und sorgte für gesellschaftlichen Zusammenhalt sowie allgemeines Vertrauen in die Zukunft.

Dieses Vertrauen in die Zukunft ist weg: Der Klimawandel hat massive und vielschichtige gesellschaftliche Auswirkungen. Unser Gesellschaftsmodell, die liberale Demokratie, wird weltweit zurückgedrängt und steht in Konkurrenz zu autokratischen Systemen – auch bei uns in Europa. Und nicht zuletzt fordert uns die Digitalisierung schon heute in einem Ausmass, welches an die Industrialisierung erinnert.

Sinnbildlich für das Fehlen von Zuversicht und Vertrauen in die Zukunft steht die Selbstbezeichnung eines Teils der Klimabewegung als «die letzte Generation». Es scheint aktuell wenig Raum für Zuversicht und utopische Zukunftsaussichten zu geben. Kinder und Jugendliche sind aber auf den Glauben an das Gute angewiesen. Wie sonst können sie Vertrauen in die Welt aufbauen?

Was beschäftigt die Jugend im Zürcher Oberland?
Das Zürcher Oberland unterscheidet sich hinsichtlich des Milieus und des Lebensraums von Grossstädten wie Zürich. Die Werthaltung ist gesamthaft sicher konservativer als in den urbanen Zentren. Es gibt jedoch auch innerhalb des Zürcher Oberlandes grosse regionale Unterschiede. Jugend ist grundsätzlich vielfältig. Und so ist es überall wichtig, dass man für unterschiedliche Ansprüche und Bedürfnisse Angebote hat. Dieser Vielfalt gerecht zu werden, ist für ländlich geprägte Regionen eine viel grössere Herausforderung.

Grundsätzlich haben Jugendliche im Zürcher Oberland die gleichen Entwicklungsaufgaben zu bewältigen wie auch anderswo in der Schweiz. Plakativ gesprochen geht es um die verschiedenen «ersten Male», die mit dem Erwachsenwerden zusammenhängen.

Wie können Gemeinden den Bedürfnissen von Jugendlichen besser gerecht werden?
Potenzial gibt es in der Kooperation zwischen Gemeinden und in der gemeinsamen Gestaltung von Angeboten. Nicht jede Gemeinde braucht ein eigenes Jugendhaus, aber alle Jugendlichen brauchen Zugang zu passenden Angeboten. Hier haben wir allerdings einen Widerspruch. Einerseits müssen Angebote möglichst vor Ort sein, damit sie gut erreicht werden können. Andererseits braucht es eine gewisse Grösse, um sie attraktiv zu gestalten und auch wirtschaftlich zu führen. Eine jugendpolitische Regionalplanung, die sich dieser Widersprüche und Herausforderungen annimmt, wäre wünschenswert. Dabei ist es wichtig, dass man die Bedürfnisse der Jugend abholt.

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Andreas Wyss

Sozialwissenschaftler

««Nicht jede Gemeinde braucht ein eigenes Jugendhaus, aber alle Jugendlichen brauchen Zugang zu passenden Angeboten.»»

Wie können wir Jugendliche besser einbeziehen?
Viel zu häufig wird über Strukturen gesprochen, und die eigentlich wichtige inhaltliche Auseinandersetzung geht vergessen. Wie ich schon ausgeführt habe, braucht Jugend, nein, eigentlich die gesamte Gesellschaft, ein gemeinsames Zukunftsversprechen. Ein solches muss unabhängig von Lebenslage und ideologischer Prägung funktionieren. Ich würde mir wünschen, dass wir unsere Energie in die Stärkung unserer liberalen Demokratie stecken, denn mit ihr sind wir in der Lage, die anstehenden Herausforderungen gemeinsam zu lösen.

Andreas Wyss

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Der gelernte Sozialarbeiter und Sozialwissenschaftler war während über zehn Jahren Jugendbeauftragter der Stadt Uster und arbeitet heute als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei den Universitären Psychiatrischen Kliniken in Basel. Zudem ist er in den Bereichen Beratung, Projektbegleitung und Sozialforschung selbstständig tätig. socialthink.ch.

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